Den neuen EU-Reformvertrag demokratisch weiter entwickeln!
13. Dez 2007
Das Präsidium der deutschen Sektion von pax christi würdigt die Bemühungen der EU-Staaten, ein neues Europa weiter aufzubauen, das - nach der Überwindung historischer "Erbfeindschaften" und den Integrationsleistungen der letzten 60 Jahre - Kriege, Rassismus und Antisemitismus endgültig hinter sich lässt. Wir treten aufgrund unserer gemeinsamen Versöhnungsgeschichte ein für ein Frieden förderndes, demokratisches und soziales, ökologisch und entwicklungspolitisch sensibles Europa auf der Grundlage der Achtung der Menschenrechte. Wir schätzen die neue Grundrechtscharta, die aber leider noch nicht von allen Staaten getragen wird. Sie sollte das Wertefundament für ganz Europa bilden, über die EU hinaus. Wir begrüßen die Stärkung von nationalen Parlamenten sowie der Rolle von Zivilgesellschaft und Kirchen.Gerade deshalb aber halten wir unsere Kritik, die wir am 2005 gescheiterten Verfassungsentwurf übten, auch gegenüber dem in Lissabon am 13. Dezember 2007 unterschriebenen EU-Reformvertrag aufrecht, weil er weiterhin starke militaristische, neoliberale und undemokratische Elemente enthält.
1. Hauptkritikpunkt ist nach wie vor die Konzeption weltweiter militärischer Interventionen und Präventivkriege, die mit dem Hinweis auf Bedrohungsszenarien wie Terrorismus oder Verbreitung von Massenvernichtungswaffen inzwischen fester Bestandteil der nationalen und europäischen Sicherheitsstrategien sind und die Praxis bereits bestimmen.
Unannehmbar sind für uns auch der Art. 27,3 mit seinem Aufrüstungseffekt und die Einrichtung einer "Europäischen Verteidigungsagentur" sowie die so genannte Ständige Strukturierte Zusammenarbeit in Art. 27,6, die ein Kerneuropa der militärisch willigen Staaten anstrebt.
Durch die Solidaritätsklausel (Art. 188) in Verbindung mit der Verpflichtung auf das Bündnissystem der NATO können auch Nicht-NATO-Mitglieder unter den EU-Mitgliedstaaten in den Verteidigungsfall eines NATO- und EU-Mitgliedstaates hineingezogen werden. Die zudem vorgesehene Möglichkeit eines Militär-Einsatzes im Innern der EU ist grundgesetzwidrig und deshalb mit deutschem Recht nicht vereinbar.
Nach wie vor sehen wir in der Einrichtung einer Agentur für Zivile Konfliktbearbeitung die einzig zukunftsweisende Alternative, für die wir eintreten werden.
2. Der Reformvertrag ist wie schon der gescheiterte Verfassungsvertrag Ausdruck einer Wirtschaftsordnung, die den europäischen Gesellschaften ihre neoliberalen Regeln aufzwingt. Während der unternehmerischen Freiheit einseitig der Vorrang eingeräumt wird, verlieren Initiativen für soziale Grundbedürfnisse (Recht auf Arbeit, Wohnen und Rente), für die Sozialpflichtigkeit des Eigentums und für den Anspruch auf menschenwürdige und Existenz sichernde Arbeitsverhältnisse immer mehr an Bedeutung. Der Machtanstieg der Konzerne geht im Rahmen eines Wirtschaftsgiganten EU mit Prozessen einher, in denen immer mehr Menschen "überflüssig" und ausgegrenzt werden. Durch solche tätige Entsolidarisierung des Gemeinwesens ist der soziale Frieden bedroht.
Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrags angekündigte Schritte zur sozialen Sicherung sind nicht verfolgt worden. Daher besteht nach wie vor die Forderung nach einer verbindlichen europäischen Sozialcharta, um die fatale und absichtsvolle Überweisung der sozialpolitischen Fragen in die Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten zu beenden.
3. Die demokratischen Defizite des EU-Verfassungsvertrags sind in keiner Weise behoben. "Indirekte" Demokratie bleibt auch im Reformvertrag das Grundprinzip der EU, wobei die Funktionen der EU-Organe kompliziert und für den Wähler kaum durchschaubar sind.
Dem EU-Parlament fehlt trotz einiger Zugeständnisse weiterhin das Initiativrecht für Gesetze. Es ist zu begrüßen, dass es nun ein Initiativrecht der Bürger und Bürgerinnen in Form eines europäischen Volksbegehrens gibt, aber dies hat bisher nur appellativen Charakter und wird durch hohe Hürden behindert. Ein Volksentscheid fehlt weiterhin.
Das Mischmodell bei der Zuständigkeit von Parlament, Ministerrat und Kommission schreibt die mangelhafte Gewaltenteilung fest. Bezeichnend und untragbar ist, dass dem Europäischen Gerichtshof die Zuständigkeit für sämtliche Bereiche der Außen- und Sicherheitspolitik entzogen bleibt (Art. 11).
Die eilige Verabschiedung des Reformvertrages unterstreicht dessen Demokratiedefizit. Ein Vertragswerk von dieser Bedeutung muss in einem demokratischen Prozess unter enger Einbindung und Mitwirkung der Bevölkerung entstehen. Dieser Reformvertrag kann eine EU-Verfassung nicht ersetzen, die in der gesamten EU breit diskutiert wird, die offen ist für Verbesserungen und Alternativen und die schließlich in jedem EU-Mitgliedsland oder europaweit in einer Volksabstimmung angenommen wird.
Die Annahme des Reformvertrags im Windschatten einer uninformierten Öffentlichkeit nimmt pax christi als große Herausforderung wahr, sich ausdrücklich daran zu beteiligen, einer anderen Politik den Weg zu bereiten. Dazu gehört für uns:
- die Umsetzung des Reformvertrags in konkrete Politik zu beobachten und negative Auswirkungen zu kritisieren,
- eine Agentur für Zivile Konfliktbearbeitung, eine Europäische Sozialcharta und einen demokratischen Prozess für eine neue EU-Verfassung zu fordern,
- eigene Initiativen für Frieden, Solidarität und einen alternativen Lebensstil zu ergreifen.
Die Werte der Demokratie, Solidarität, Ökologie und des Friedens müssen mit Leben erfüllt werden!
Bad Vilbel, den 13.12.2007